„Ich wollte mich durch die Kamera meiner Mutter annähern“
Interview mit Hui-chen Huang
Interview mit Hui-chen Huang | © Hui-chen Huang
Regisseurin
Hui-chen Huang, Produzentin Diana Chiawen Lee und Redakteurin Jessica
Wan Yu Lin präsentierten ihren zarten und sehr direkten Dokumentarfilm
„Small Talk“ in der Berlinale-Sektion Panorama Dokumente. Im Mittelpunkt
steht Huangs homosexuelle Mutter, die in jungen Jahren unglücklich
verheiratet wurde.
Durch
den Prozess des Filmens lernte Huang die innere Welt ihrer Mutter
kennen, um sie und sich selbst mit der eigenen Vergangenheit zu
versöhnen. Das ganze Team von Small Talk ist bezaubernd und das Gespräch
mit Hui-Chen Huang war eine große Freude, nicht zuletzt wegen ihrer
wunderbar weichen Stimme.
· Wie kamen Sie zu der Idee , einen Film über Ihre Mutter zu drehen?
Erstmals
dachte ich im Jahr 1998 daran. Da war ich 20 Jahre alt und arbeitete
als Trauerfrau auf Beerdigungen. Damals bat ein Dokumentarfilmer darum,
meine Schwester und mich bei der Arbeit filmen zu dürfen. Es war das
erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Kamera sah, wie sie für
Fernsehaufnahmen verwendet wird, außerdem kam ich erstmals mit
Dokumentarfilm in Kontakt. Danach dachte ich immer wieder darüber nach,
einen Film über unsere Familie zu machen. Zuerst sparte ich etwas Geld,
um eine Kamera zu kaufen und belegte dann einen Kurs an einer lokalen
Hochschule, um die grundlegenden Techniken zu lernen. Die
kleinformatigen Bilder, die man immer wieder im Film sieht, stammen aus
dieser Zeit, also etwa aus dem Jahr 1998. Seitdem filme ich meine
Mutter, und sie hat sich an die Kamera in ihrem Alltag gewöhnt. Trotzdem
war es schwierig, sie zu einem Interview zu bewegen, denn es fällt ihr
nicht leicht, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Sie wollte nie über diese
Geschichten aus ihrer Vergangenheit reden.
Alle denken immer,
dass die Kamera eine Distanz zwischen Menschen erzeugt, doch ich wollte
mich durch die Kamera meiner Mutter annähern, denn ohne Kamera gäbe es
überhaupt keine Gelegenheit, an meine Mutter heranzukommen.
· Wie hat Ihre fünfjährige Tochter auf das Projekt reagiert?
Meine
Tochter war beim gesamten Dreh dabei. Ein Filmprojekt über unsere
Familie, das war für sie natürlich super spannend. Sie liebt es jetzt
auch, selbst Fotos zu machen. Wie man am Ende des Films sieht, nahm sie
manchmal ihre kleine Spielzeugkamera und machte mich nach. Am Anfang
filmte sie mich und stellte mir Interviewfragen, dann ging sie zu meiner
Mutter und fragte sie: „Liebst du mich?“ Das Ende ist genau das, was
wir mit diesem Film zum Ausdruck bringen wollten: Die Suche und das
Streben nach Liebe ist tief in uns allen verankert.
·
Das Gespräch am Esstisch zwischen Ihrer Mutter und Ihnen ist sehr
berührend. Es wirkt wie eine Liebeserklärung, aber gleichzeitig verraten
Sie sowohl Ihrer Mutter als auch dem Publikum ein Geheimnis über Ihre
Vergangenheit. Ich kann mir vorstellen, dass es emotional sehr schwer
gewesen sein muss, dieses Gespräch als Tochter und als Filmemacherin
zugleich zu führen. Können Sie uns sagen, wie sich Ihre Gefühle während
des Drehs entwickelten und wie Sie das Set gestaltet und die Szene
gefilmt haben?
Dies ist in der Tat eine
Szene, in der ich meiner Mutter meine Gefühle offenbart habe. Ich war
sehr besorgt, dass wir uns unwohl fühlen könnten, also bauten wir drei
Kameras auf, eine auf meine Mutter gerichtet, eine auf mich und eine auf
die gesamte Szene. Nach dem Aufbauen der Kameras verließ der Kameramann
den Raum. Das gesamte Gespräch dauerte drei Stunden und wir mussten
eine Menge herausschneiden. Während dieser drei Stunden gab es lange
Momente der Stille, da wir beide sehr ungeschickt darin sind, unsere
Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Selbst gegenüber der Person, die uns am
nächsten ist, können wir keinen zusammenhängenden Satz hervorbringen.
Ich wurde einmal gefragt, wie wir diese Szene beendeten. Tatsächlich
brach ich am Ende des Gesprächs emotional zusammen und sagte meiner
Mutter, es wäre mir lieber, wenn sie zuerst den Raum verlassen würde.
Ansonsten hätten wir dort noch endlos gesessen und stille Tränen
vergossen. Nachdem sie gegangen war, legte ich meine Arme und meinen
Kopf auf den Tisch und weinte solange, bis der Kameramann hereinkam, um
die Kamera auszuschalten.
Der Vorteil, wenn man etwas aufnimmt
und filmt, ist, dass wir noch einmal einen objektiveren Blick darauf
werfen können. Das war in meinem Fall wichtig, denn in der Situation des
Gesprächs war ich vielleicht gar nicht imstande, alles korrekt zu
verstehen und zu bewerten.
© Small Talk Productions
· Hat sich nach der Fertigstellung des Films etwas verändert?
Ich
habe diesen Film mit dem klaren Ziel gemacht, etwas in der Beziehung
mit meiner Mutter zu verändern, und tatsächlich sehe ich nun, dass sich
unsere Beziehung in eine sehr gute Richtung entwickelt. Nachdem ich aus
unserem Leben einen Dokumentarfilm gemacht hatte und ihn mit meiner
Mutter auf dem Golden Horse Festival erstmals im Kino sah, konnte sie
plötzlich aus einer gewissen Distanz auf unser Mutter-Tochter-Verhältnis
schauen. Sie begann zu verstehen, was zwischen uns passiert war und
warum wir uns so und nicht anders verhielten. Normalerweise hat meine
Mutter große Stimmungsschwankungen, aber nachdem sie diesen Film gesehen
hatte, stabilisierte sich ihre Gefühlslage mit einem Mal und sie war
für einen ganzen Monat lang bester Laune. Es freute mich sehr, dass
genau die Nachricht bei ihr angekommen war, die ich hatte senden wollen.
·
Die Interviews mit den Ex-Freundinnen Ihrer Mutter waren sehr
unterhaltsam. Sie sprechen darin sehr offen. War es schwer, sie zu
finden und die Interviews mit ihnen zu führen?
Die
meisten ihrer Ex-Freundinnen leben nicht weit entfernt, deshalb konnte
ich sie problemlos finden. Sie willigten aus verschiedenen Gründen ein.
Die derzeitige Freundin meiner Mutter redet sehr gern und ihre
ehemaligen Freundinnen wollten gern interviewt werden. Vor den
Interviews war es jedes Mal etwas peinlich, wenn man sich in der
Nachbarschaft begegnete, manchmal beschwerten sie sich auch über meine
Mutter. Es ist so, dass sich diese Mütter, die eher in den unteren
sozialen Schichten der Gesellschaft leben, nicht so schnell in ihrem
Status verletzt fühlen, wie das bei Frauen aus der Mittelschicht der
Fall sein mag, denn sie verstehen, dass das Leben nun mal nicht immer
leicht ist, es aber unabhängig davon verdient, mit anderen geteilt zu
werden.
Diana Chia-wen Lee (Producer) & Hui-chen Huang (Director), photo: Yun-Hua Chen
· Wie haben Sie Ihr filmisches Dream-Team zusammengestellt?
Die
Produzentin Diana Chai-wen Lee war gerade aus den USA zurück nach
Taiwan gekommen und wollte taiwanische Filmschaffende unterstützen. Ich
nahm damals an einem ihrer Workshops teil. Den Komponisten Lim Giong
traf ich vor 20 Jahren, als er ein sehr beliebter Sänger war. Als ich
noch als Trauerfrau arbeitete, kam er einmal, um einem verstorbenen
Bekannten seinen Respekt zu erweisen. Als wir uns dann viel später auf
der Taiwan-Kinonacht des Busan Filmfests in Korea trafen, erzählte ich
ihm von unserer ersten Begegnung, und er fragte mich nach meinem Film.
Er sagte dann, dass er gern die Musik dafür komponieren würde, und dass
wir uns über die Bezahlung keine Sorgen machen sollten. Hou Hsiao-hsien
lernte ich schon vor meiner Zeit als Filmemacherin kennen, als ich in
einem sozialen Aktionsnetzwerk arbeitete. Es war sehr mutig von ihm,
einen Film von jemandem wie mir zu produzieren, wo ich doch über
keinerlei professionelle Filmausbildung verfügte. Als NHK (die
japanische Rundfunkgesellschaft, Anm. d. ÜS) in den Film investierte,
unterzeichneten wir den Vertrag mit dem Namen von Hou Hsiao-hsiens
Produktionsfirma, was die Sicherung finanzieller Unterstützung
erleichterte. Es waren wirklich viele großartige Menschen an diesem Film
beteiligt.
Übersetzung: Jonas Borchers
Copyright: Goethe-Institut China. Dieser
Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung –
Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
Februar 2017
DIE UNERTRÄGLICHE STILLE DES SEINS IN „SMALL TALK“
In „Small Talk“ begleiten wir die persönliche Reise der Filmmacherin Hui-chen Huang auf dem Weg zur Versöhnung mit eigenen Kindheitserfahrungen und dem Weg der Gesellschaft zur Gleichbehandlung unabhängig von Genderidentität und sexueller Orientierung.
Dieser Film kommt zur rechten Zeit, da der Gesetzesentwurf zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Taiwan die erste Hürde und derzeit im Parlament zur Debatte steht. Small Talk ist ein Liebesbrief von Huang an ihre Mutter, die während der 70er Jahre in einem kleinen Dorf in eine Ehe gezwungen wird in der sie Misshandlungen ausgeesetzt ist, die sie stillschweigend über sich ergehen lässt. Ihre Homosexualität trifft auf Ablehnung und ihre zwei Töchter distanzieren sich von ihr. Durch die gefilmten Dialoge brechen sie endlich das Schweigen, konfrontieren die schmerzhaften Erfahrungen die sie teilen und stellen schwierige Fragen nach der Liebe. Während eines Mutter-Tochter-Gesprächs am Ende des Films werden alle Wunden mit brutaler Offenheit aufgerissen. Drei Kameras zeigen die Beteiligten in Nahaufnahmen und im Profil, wie sie um den Tisch herum sitzen mit einer Distanz, die ein gegenseitiges Berühren unmöglich macht. Obwohl Huangs Mutter die meiste Zeit über in Schweigen verharrt – ihr Blick weggeduckt und die Finger mit den Zehen spielen – entflieht sie der Situation nicht.
© Small Talk Productions
Die Kamera bietet hier einen Vorwand, der der Filmmacherin die Gelegenheit gibt, sich ihrer eigenen Mutter physisch und emotional zu nähern. Nur hinter der Kameralinse kann Huang die unterschwelligen Gesichtszüge ihrer Mutter mit jedem Fältchen und der Gesichtstextur festhalten. Als die Tante der Filmemacherin gefragt wird, ob sie wusste, dass ihre Schwester Frauen liebt und ins Zimmer stürmt nur um zu antworten „Ich muss mich um die Wäsche kümmern“ kann man nicht anders, als darüber zu lachen. Dieser Moment bitteren Humors und das Hin- und Her von „Wusstest du es?“ und „Ich wusste es nicht“ zeigt das brennende Bedürfnis von Small Talk denjenigen eine Stimme zu verleihen die zu lange zum Schweigen verdammt waren und die es verdient haben, von ihrem Gefühl der Scham befreit zu werden.
Wundervoll begleitet von der Musik des legendären Komponisten Giong Lim (林强), erfährt der Film außerdem die Unterstützung von einem der wichtigsten Auteurs des taiwanesischen Kinos, Hou Hsiao-hsien (侯孝贤), der den Film produziert hat. Obwohl Small Talk eine persönliche und individuelle Geschichte erzählt, ist die Botschaft des Films universell und spricht ein breites Publikum an, unabhängig von Nationalität, Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung und sozioökonomischem Hintergrund. Nachdem ich Raoul Peck’s Dokumentarfilm I Am Not Your Negro über das Leben des amerikanischen Autors James Baldwin gesehen hatte (ebenfalls Teil der Berlinale in der Sektion Panorama), blieben mir viele Zitate im Kopf, die auch in diesem Film nachhallten. Mein Favorit und besonders passend für Small Talk: „Nicht alles, was wir akzeptieren müssen, können wir ändern, aber wir müssen es akzeptieren, um es ändern zu können."
Copyright: Goethe-Institut China, Yun-hua Chen. This text is licensed under a Creative Commons Attribution – Share Alike 3.0 Germany license. February 2017
Autorin: Yun-Hua Chen, studied in Taipei, France and Scotland. She obtained her PhD in Film Studies at the University of St Andrews (Scotland). Based in Berlin at the moment, she writes for a range of journals, gives talks at international conferences and film seminars regularly. In December 2016, she published the monograph "Mosaic Space and Mosaic Auteurs: On the Cinema of Alejandro González Iñárritu, Atom Egoyan, Hou Hsiao-hsien, Michael Haneke" at Neofelis Verlag publishing house.
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